Wir stehen an einem heißen Septembertag am Eingang zum Flüchtlingsviertel Bourj Al-Barajneh in Beirut. Links und rechts gibt es kleine Läden, oF nur Garagen, die LebensmiHel, oder Werkzeug verkaufen, in einem Laden gibt es auch bunte Singvögel. Man sieht Männer mit langen Hosen und Frauen mit KopFüchern, dann auch Kinder, Roller, vereinzelt Autos, die aber meist wieder kehrt machen, denn im Viertel oder „Camp“, wie es die Bewohner*innen nennen, ist es eng und nur wenige Straßen sind mit Autos passierbar. Dafür muss man sich vor den flinken Motorrädern und -rollern in Acht nehmen und notfalls zur Seite springen. Die Straßen sind umsäumt von grauen Häusern, zum Teil mehrere Stockwerke hoch, und überspannt von einem tiefhängenden Gewirr aus Strom- und Wasserleitungen. Die Menschen mustern uns neugierig, manche lächeln – wir fallen natürlich auf – und wir lächeln vorsichtig zurück.
Zweimal links abbiegen und wir sind bei der Alsama Schule. Mit Schüler*innen der „Professional class“ werden wir innerhalb von zwei Wochen ein Magazin erstellen, das ihre Geschichten, Fotos und Ansichten vom Camp zeigen soll. Das diesjährige Team besteht aus den beiden Gründern des Projektes Erol (Fotograf) und István (Designer) sowie Sara (Video- Journalistin aus Beirut) und mir als Neuling im Team, da ich als Fotostudentin gerade mein Praktikum bei Erol absolviere. Bereits einige Tage zuvor haben wir die 14- bis 19-jährigen Jugendlichen kennengelernt. Als Hausaufgabe bis zum Start des Workshops sollten sie sich jeweils zwei Themen aus dem Camp-Leben suchen, über die sie im Magazin berichten wollen.
Heute geht es los, es hat 31 Grad und in den kommenden zwei Wochen wird es nicht abkühlen. Wir haben die Wahl zwischen einem fensterlosen 15m2 großen Klassenzimmer oder einem größeren Zimmer unter dem Dach, welches Fenster hat, jedoch aber auch dementsprechend heiß ist – wir entscheiden uns für ersteres. Spätestens nach der Vorstellungsrunde merken wir, dass alle sehr motiviert sind und freuen uns auf die Zusammenarbeit in den nächsten Tagen.
Erol startet mit ein paar Basics zum Thema Fotografie (Perspektive, Einstellungsgrößen, Hoch- und Querformat) und schickt die Schüler*innen dann ins Camp, um erste Fotos zu machen. Ich begleite zwei davon – Tarif und Abdallah – durch enge Gassen mit Pfützen auf dem Boden und durch breitere Straßen. Links, rechts, wieder links, allein würde ich den Weg nie wieder zurückfinden und ich habe Not mit dem Tempo mitzuhalten, mit dem die beiden zielgenau zu einem überdachten Fußballplatz laufen, um dort den Platz, die Kinder und den Fußball aus verschiedenen Winkeln zu fotografieren. Ich schaue zu und gebe hie und da ein paar Tipps auf Englisch.
Wir haben alle mit Smartphones ausgestattet und können die Fotos im Anschluss an die Aufgabe schnell auf den Laptop übertragen und besprechen. Es ist spannend zu sehen welche Motive die Schüler*innen für interessant und wichtig halten und welche für sie belanglos sind. Die Woche vergeht schnell mit Fotoübungen, Feedbackrunden, Input zum Storytelling von Sara, Finden von Protagonist*innen für die Storys, Besprechung der Geschichten, Schreibübungen und wieder Fotoübungen, um den Jugendlichen einen Blick für ein gutes Bild beizubringen. Die Mittagspausen nutzen wir, um bei Cola und Sandwiches unsere Beobachtungen von den Schüler*innen zu teilen und den Projekfortschritt zu besprechen. Am Ende der ersten Woche sind manche Storys bereits sehr ausgereift, während andere nochmal umgeworfen werden müssen.
Anfang der nächsten Woche laufe ich bereits routinierter mit den kleinen Teams durch die Straßen, nur manchmal muss man mich noch vor einem Motorroller zur Seite ziehen oder vor einer Baustelle warnen, wenn mein Blick irgendwo oben bei den Stromleitungen oder auf dem wuseligen Obst- und Gemüsemarkt hängenbleibt. Auch die Kommunikation läuft jetzt besser: Die zum Teil sehr schüchternen Schüler*innen trauen sich Fragen zu stellen, nicht nur zur Fotografie, sondern auch zu mir, wo ich lebe oder wie ich das Camp finde. Auch ich stelle ihnen neben meinen Fototipps Fragen was dies oder jenes bedeutet und sie geben mir sehr aufgeschlossen Auskunft.
Seit der zweiten Woche ist auch István da: Er erklärt wie ein Magazin aufgebaut ist und was einen guten Titel ausmacht. Daneben beginnt er mit dem Layout und fängt an die ersten fertigen Storys einzupflegen. Die Themen, die die Jugendlichen bearbeiten, sind vielfältig: Es geht um besondere Persönlichkeiten im Camp, syrisches Essen, versteckte Gärten oder die engen Gassen. Sie beginnen nun auch zu verstehen, wie wichtig es ist ihre Perspektive auf ihr Leben und ihre Umgebung zu zeigen. Mariam erzählt mir, dass sie gerne hier lebt, weil hier so viele Menschen leben, dass man nie allein ist, eine für mich völlig neue Sichtweise des Camps. Überhaupt erfahren wir sehr viel darüber was sie bewegt, z.B. dass einige von ihnen leidenschaftlich gerne Cricket spielen, dass ihnen die Schule Selbstbewusstsein gibt, aber auch dass es manchmal zu Konflikten zwischen syrischen und palästinensischen Geflüchteten kommt. Auch mit den Lehrer*innen und dem Schulleiter sind wir im Austausch.
Die Themen nehmen langsam Gestalt an, wobei fast überall noch der letzte Feinschliff fehlt, sei es ein Titelfoto, ein Teil vom Text oder weil mangels Protagonist*in doch noch schnell nach einem neuen Thema gesucht werden muss. Jeder von uns versucht dabei die Jugendlichen zu unterstützen und individuell auf sie einzugehen. Mittwochabend haben wir dann fast alles an Rohmaterial fertig, nur Amouna braucht noch etwas Zeit, da sie noch ein Bild für die Rückseite des Magazins zeichnet. Da wir am Donnerstagmittag spätestens drucken müssen, steht uns ein langer Abend bevor: István und ich layouten, Erol bearbeitet die Fotos fertig, Sara kümmert sich um die Finalisierung der Texte. Um halb 2 Uhr morgens beschließen wir etwas zu schlafen und uns für den nächsten Tag aufzuteilen: István und ich finalisieren das Magazin und geben es in den Druck und Erol und Sara fahren ins Camp und geben der Klasse noch Input zum Thema Social Media Posts.
Am Freitag fahren wir mit den gedruckten Magazinen ins Camp. Wir sind zum letzten Mal hier und ich versuche mit meinen Sinnen nochmal alles aufzunehmen, um zu Hause davon erzählen zu können. Die Jugendlichen müssen aus dem Klassenzimmer, damit wir die fertigen Magazinseiten als Überraschung in einer Reihe nebeneinander an den Wänden befestigen können, der Platz reicht knapp und die ganze Aktion hat etwas Feierliches. Als wir die Klasse hereinbitten, staunen alle darüber was sie in der kurzen Zeit geschafft haben. Sie tuscheln, lachen, zeigen mit dem Finger auf ihre Artikel, machen Fotos. Wir besprechen Artikel für Artikel und enden jeweils mit einem tosenden Applaus.
Am Samstag ist nachmittags dann die Präsentation im Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung, dem Geldgeber des Projektes. Die Schüler*innen haben sich schick gemacht und sind zum Teil sehr nervös. Jede*r darf auf die Bühne und den eigenen Artikel vor allen Projektpartnern, dem Lehrerkollegium und Interessierten vorstellen. Auch aufkommende Fragen beantworten sie mit Bravour und erzählen zum Teil noch Fun Facts zur Entstehung. Applaus begleitet jede*n einzelne*n wieder von der Bühne und man merkt: Sie sind erleichtert, stolz und zugleich wehmütig, dass es vorbei ist – genauso wie wir. Nach ein paar Abschiedsfotos stehen wir draußen und winken ihnen nochmal zu bevor sie in den Kleinbus steigen und zurückfahren.