Erstmalig war unsere Mission die Kreation eines Zines gemeinsam mit einer Gruppe von 12 Schüler/innen des Alsama Projekts in Shatila. Alsama ist die Initiative von Meike Ziervogel, einer Deutsch-Britin, die 2020 zunächst eine Art Berufsschule vor Ort gegründet hatte. Damals waren es in erster Linie geflüchtete Syrische Frauen, die dort das Nähen und Schneidern erlernen konnten. Bald wurde der Gründerin klar, dass der Bedarf vor Ort viel grösser war. Sie passte das Konzept an und unterrichtet inzwischen mit einem Team von Lehrern und Pädagogen über 1000 Geflüchtete Jugendliche in Mathe, Arabisch, Englisch und weiterhin auch auch im Schneiderhandwerk.
Ihre sogenannte „Professional Class“ ist eine Gruppe von zwölf besonders begabten vierzehn bis 25-Jährigen. Der Plan war, gemeinsam mit ihnen innerhalb von zwei Wochen ein Zine mit einem Umfang von ca. 40 Seiten zu produzieren. Der gesamte Content sollte von unseren Teilnehmer/innen kommen: sie selbst sollten entscheiden, über welche Themen sie berichten wollen und wie sie dieses Themen journalistisch umsetzen. Das ist der Grundgedanke von Ourvoice: den teilnehmenden Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, aus ihrer Perspektive Geschichten zu erzählen. Ihnen eine Stimme zu geben.
Wir hatten zwei Wochen vor Beginn des Workshops eine Zoom-Session mit einigen von Ihnen veranstaltet, um sie auf unser Projekt vor zu bereiten. Hatten über mögliche Themenbereiche gesprochen und auch grundsätzlich über das Medium Magazin: daß es bildgetrieben ist, reich an unterschiedlichen Themen und aktuell.
Jetzt, in den Räumlichkeiten von Alsama in Shatila, konnten wir die Teilnehmenden endlich auch persönlich kennen lernen. 12 junge Menschen, die mit ihren Familien aus Syrien geflüchtet und in Shatila Camp gelandet sind. Elektrisierend neugierig und total aufmerksam. Sie kamen uns vor wie ausgetrocknete Schwämme, die alles aufsaugten, was wir erzählten.
Während der ersten drei Tage, haben Co-Trainerin Sara und ich in erster Linie theoretische Grundlagen der Fotografie und des Fotojournalismus vermittelt. Immer auch mit praktischen Aufgaben, mit denen wir die Theorie vertiefen konnten. Bildgestaltung, Lichtführung, Porträtfotografie und die Milieustudie standen auf dem Stundenplan.
Wir hatten zehn iPhones 8 mit gebracht, um zu gewährleisten, dass jede/r eine Smartphone-Kamera zur Verfügung hatte. Wir hatten uns für iPhones entschieden, um das Teilen der Fotos via Airdrop zu ermöglichen. Damit war es möglich, die ausgewählten Fotos von jedem/jeder auf Knopfdruck auf unseren Laptop zu senden. Ein Prozess, der in der Vergangenheit mit unterschiedlichen Handys immer sehr zeitaufwendig und umständlich war. Jetzt klappte es problemlos und flüssig.
An Tag drei haben wir damit begonnen, Themenbereiche zu definieren, die die Jugendlichen interessierten. So sah das auf unserer Tafel aus:
Dann begannen wir gemeinsam mit den Schüler/innen, die Themen zuzuspitzen: wir erklärten Ihnen, dass wir Protagonisten brauchten, um magazingerecht erzählen zu können. Menschen, die betroffen waren und auch bereit, davon zu erzählen und sich fotografieren zu lassen: das war der Startschuss für die Vor-Ort Recherche in Shatila und unsere Schülerinnen schwärmte aus, um ihre Leute zu finden. Wir gaben ihnen eineinhalb Stunden Zeit dafür. Bis zum Mittagessen, das immer überraschend pünktlich um 14 Uhr geliefert wurde. Es gab meistens ein mit Hühnchenfleisch und Salat gefülltes Fladenbrot mit viel Mayo, dazu eine Dose Limo. Die erste Recherche verlief so, wie erste Recherchen meistens verlaufen: gemischt. Einige unserer Schüler/innen waren auf anhieb erfolgreich und fanden gleich Ihre Protagonisten; andere kamen enttäuscht zurück. Sara und ich ermutigten sie weiter zu suchen. Wir erklärten Ihnen, dass das ein ganz normaler Prozess sei im Journalismus und dass es keine Niederlage ist, wenn man Absagen bekommt.
Am Freitag hatten viele unsere Schüler-/innen schon erste Motive fotografiert und mit ihren Texten begonnen. Das war auch der Tag, als gegen Mittag unsere ehrenamtliche Kollegin Valentina aus Berlin zu uns stieß. Sie ist angehende Bildredakteurin und ihr Aufgabe sollte es sein, mit den Jugendlichen eine Bild-Vorauswahl auf ihren Handys zu treffen. Nur diese Fotos wurden später auf unser Macbook übertragen und dort spezifischer ausgewählt und - bei Bedarf - bearbeitet. Valentina ist eine junge, temperamentvolle Italienerin, spricht ein paar Sätze Arabisch und war sofort beliebt bei unseren Schüler/innen. Sie begann gleich mit ihrer Arbeit, dem Sichten des Bildmaterials jeder Schülerin direkt auf dem Handy, gab Feedback und - wo notwendig - schickte die Jugendlichen wieder zurück, um mehr Aufnahmen zu machen.
Die Arbeitswoche ging zu ende mit dem Gefühl, dass wir auf einem guten Weg waren: einige hatten mehr oder weniger starke Geschichten, an denen sie arbeiteten, andere waren noch auf der Suche nach Protagonisten oder wieder auf der Suche, wenn ihre ursprünglichen Heldinnen abgesagt hatten. Auch bei der Mischung der Themen hatten wir den Eindruck, einen bunten Strauß an Stories zu haben. Das ist essenziell wichtig für ein interessantes, abwechslungsreiches Zine.
Am Montag unserer zweiten Woche kam István aus München dazu, unser Gestalter und Art Director. István bringt jahrelange Erfahrung und die damit einher gehende Ruhe mit. Er hatte die Aufgabe, einerseits unseren Schülerinnen die Grundlagen der Magazingestaltung zu vermitteln und - und das war noch viel wichtiger - unser Zine zu gestalten. Wir hatten ja schon einiges an Material, so dass er zügig beginnen konnte über die Platzierung der Stories nachzudenken und gemeinsam mit den Autorinnen Aufmacher-Fotos zu bestimmen. Auch unser Cover und einen Zine-Titel galt es zu entwickeln. Alles in allem eine Herausforderung, denn am Donnerstag mussten wir im Copyshop drucken um unser Heft am Freitag fertig zu haben für die abschließende Heftkritk. Das bedeutete auch, dass alle Fotos, Texte und Stories spätestens am Mittwoch Nachmittag vorliegen mussten.
Wir entwickelten unseren eigenen Produktionsrythmus: Bilder beurteilen und Auswählen (Valentina), Texte aus dem Arabischen übersetzen und redigieren (Sara), Seiten gestalten (István), die Heftlinie im Auge behalten und das Zeitbudget verwalten (Erol). Der Zeitdruck stieg schlagartig an: es musste jetzt auch dringend ein aussagekräftiges Cover her und nach einigem Experimentieren kehrten wir zu einem Foto zurück, dass Marwa al Khodor gleich am ersten Tag im Rahmen einer Übung fotografiert hatte: ein Jugendlicher - im Profil fotografiert - scheint durch seine geballte Faust hindurch blickend, einen roten Fächer an Stromleitungen aus zu strahlen. Ein ungewöhnlicher Hingucker, perfekt geeignet als plakatives Coverfoto. Es fehlte nur noch der Zine-Titel: „Shatila - Our Views“ drückte nicht nur das aus, was das Zine ausmacht, nämlich die Sichtweisen seiner Autorinnen, sondern unterstütze auch die Bildaussage, den anderen Blick auf den Wohnort der Jugendlichen.
Inzwischen war es Mittwoch und eine sehr wichtige Geschichte bereitete uns große Kopfschmerzen. Marwa al Omar hatte eine optisch viel versprechenden Story über eine Dabke-Tanzschule in Shatila vorgeschlagen. Uns allen lag genau dieser Artikel am Herzen, denn er versprach - nach Marwas Erzählungen - optimistisch, aktionsreich zu werden. Ein motivierender Ausklang für unser Zine, dass viele ernste Stücke hatte. Das Problem war, Marwa war schon drei mal dort gewesen und die Schule war immer geschlossen. Nach einigen Telefonaten erfuhr sie, dass am Mittwoch Abend ab 18 Uhr getanzt werden würde. Zu spät für unsere Deadline.
Ich spielte István einen gefährlichen Ball zu: wenn das Heft sonst - bis auf Marwas Fotos - am Mittwoch Abend fertig wäre, könnten wir vielleicht abwarten, ob und was die Autorin bis um 19 Uhr fotografiert hat. Valentina würde sie als Coach begleiten. Wenn wir Glück haben würden, könnte das ein toller Ausklang unseres Heftes werden. Wenn Marwa Pech haben würde, wäre die Geschichte gestorben und unsere Magazin um vier Seiten dünner.
Marwa und Valentina zogen los, Sara, István und ich begannen mit Korrekturschleifen, Bildunterschriften und Layoutkorrekturen; die letzten Handgriffe bei der Entstehung eines wundervollen Heftes mit einem großen Problem: ohne Marwas Tanzstory würde es sehr ernst bleiben. Zu ernst, ohne positiven Ausklang. Wir hofften sehr auf gute Nachrichten von Valentina. Und sie kamen: es war gelungen, tolle Fotos beim Tanztraining zu schiessen. Schnell wählten wir die stärksten Bilder aus. Das Foto eines strahlend tanzenden Jungen mit weit geöffneten Armen wurde der Aufmacher. Ein fulminanter fotografischer Schlusspunkt unseres Zines. Wir waren begeistert.
Bis nach Mitternacht kürzten wir Storys, fanden die letzten Headlines und ergänzten Bildunterschriften. Danach las jeder von uns parallel das gesamte Heft auf Fehler durch und irgendwann war es geschafft. Wir gingen schlafen mit dem guten Gefühl, dass wir unser Zine am nächsten Tag im Copyshop in Druck geben konnten. Auflage 100.
Am Donnerstag Morgen fuhren wir mit Istváns USB-Stick zu Doculand, unweit unseres Hotels in Beiruts Partyviertel Gemayze. Nach einem kurzen Datencheck sagte man uns das fertig gedruckte Heft für den gleichen Abend zu - allerspätestens für Freitag früh - unseren letzten Workshop Tag. Wer den Libanon kennt weiss, daß Aussagen wie diese zum Verhängnis werden können, denn man sieht die Dinge lockerer als bei uns in diesem mediterranen Land. Aber wir hatten keine andere Wahl, als zu vertrauen …
Am Freitag gegen 11 - eine halbe Stunde später als geplant - waren alle Hefte fertig und wir kamen leicht verspätet in unserem Klassenzimmer an. Die Anspannung stand in den Gesichtern unserer Schülerinnen: hatte alles geklappt? War die Qualität OK? Würde jeder gleich sein Exemplar in Händen halten? Wir hielten die Spannung aufrecht, denn wir begannen die Heftkritik zunächst mit dem Anbringen von speziell ausgedruckten Doppelseiten an den Wänden des Klassenzimmers. Das Heft zeigten wir noch nicht.
Wir führten die Klasse am Layout vorbei und analysierten gemeinsam mit Ihnen ihre Geschichten: Aufmacherfotos, Überschriften, Texte, Bildunterschriften: alles sah erstaunlich gut aus. Hier und da gab es Verbesserungsvorschläge und konstruktive Kritik. Begeistert waren wir alle. Noch nie zuvor hatten die Jugendlichen auf professionellem Niveau journalistisch gearbeitet. Niemand hatte sie bisher um ihre dezidierte Meinung in Bild und Text zu Themen wie Kinderarbeit und häuslicher Gewalt gefragt. Jetzt standen sie vor Ihren eigenen Geschichten. Zum Teil ergriffen von der Form ihrer Arbeit, zum Teil cool-distanziert.
Der Höhepunkt unseres letzten gemeinsamen Tages war das Verteilen des Zines unter den Jugendlichen: jetzt hielten sie Ihr Werk in ihren eigenen Händen. Es war so, als würde - Simsalabim - etwas ganz Wunderbares aus dem Nichts erscheinen. Es verzauberte die Schülerinnen. Dieses Foto von Afraa mit ihrer Story zeigt das besser, als ich es hier im Text beschreiben kann:
Wir beendeten unser zweiwöchiges Projekt am Samstag in den Räumlichkeiten der Friedrich Naumann Stiftung in Beirut. Alle waren gekommen und jede Autorin schilderte nacheinander auf der kleinen Bühne, wie sie auf ihre Thema stieß, warum es ihr wichtig ist und was die Herausforderungen waren. Alle erzählten, was sie aus dem Workshop mitnehmen würden. Dass sie gelernt haben, sich schriftlich besser auszudrücken, dass sie sicherer geworden sind im Umgang mit Fremden, dass sie erfahren haben, wie man mit Fotos Geschichten erzählen kann.
Als ich Marwa al Omar fragte, was sie für sich aus dem Projekt mitnehmen würde, kam etwas völlig Unerwartetes: sie erzählte mir, dass sie bis vor unserem Workshop Ihre Heimat Shatila immer nur verlassen wollte, auf Reisen sein wollte, weit weg von diesem Ort der laut, schmutzig und ihr fremd war. Jetzt hat sie einen anderen Blick auf ihr Zuhause: „Ich habe die Schönheit von Shatila entdeckt. Will noch mehr finden, was hier besonders und authentisch ist. Ich will hier nicht mehr weg.“